Um dem Fachkräftemangel zu entgegnen, bieten immer mehr Bildungsträger Ausbildungen zur „Elektrofachkraft Industrie“ oder „Geprüfte Elektrofachkraft“ an. Dabei soll innerhalb von ca. 9 Wochen die Qualifikation einer „Elektrofachkraft“ erlangt werden. Vergleichsweise werden dazu in den Ausbildungskriterien zur Elektrofachkraft für festgelegte Tätigkeiten (EFKffT), beschrieben im DGUV Grundsatz 303-001, für die Industrie und sonstige gewerbliche Bereiche insgesamt 18 Wochen für festgelegte Tätigkeiten bei der Instandhaltung von Produktionsanlagen vorgesehen. Zur Begründung wird dort angeführt, dass wegen der Komplexität der verschiedenen Tätigkeiten (insbesondere Instandhaltung, Inbetriebnahme, Kundendienst) die Ausbildung entsprechend konzipiert werden muss.
Im Klartext bedeutet dies, dass die Elektrofachkraft in der Industrie nur knapp die Hälfte der Qualifizierungszeit der EFKffT im Bereich Industrie zu absolvieren hat. Daher kann diese Qualifikation unter keinen Umständen höher oder gleichwertig wie die EFKffT im Bereich Industrie oder gar wie eine Elektrofachkraft eingestuft werden.
Wenn eine EFKffT mit 18 Wochen Qualifizierung im Bereich Industrie (Grundausbildung zzgl. Fachtheorie, Fachpraxis und betriebliche Qualifizierung) „nur“ gleichartige, sich wiederholende elektrotechnische Arbeiten[1] an Betriebsmitteln, die vom Unternehmer in einer Arbeitsanweisung festgelegt sind, durchführen darf, kann man von einer EFK in der Industrie mit 9 Wochen Qualifizierung kein fachgerechtes selbstständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren im Bereich der Elektrotechnik erwarten.
Die Internationale Leitlinie zur Beurteilung der Befähigung von Elektrofachkräften von der ISSA (International Social Security Association) setzt für die verschiedenen Einsatzgebiete im Bereich der Elektrotechnik eine zum Teil bedeutend höhere Vermittlungsdauer voraus. Abschnitt 4 der Leitlinie stellt anhand von Beispielen den erforderlichen Umfang für die Vermittlung der theoretischen und praktischen Kenntnisse auf einzelnen elektrotechnischen Tätigkeitsgebieten dar. Die nachfolgende Tabelle 1 zeigt eine Zusammenfassung unter Angabe der dort empfohlenen Mindestzeiten.
Empfohlene Mindestzeiten zur Vermittlung der speziellen Kenntnisse und Erfahrungen | Wochen |
4.1 Allgemeine Niederspannungsinstallation | 52 |
4.2 Installation elektrischer Anlagen in Gebäuden | 12 |
4.3 Einsatz elektrischer Anlagen und Geräte unter besonderen Umgebungsbedingungen oder mit besonderem Gefährdungspotential |
18 |
4.4 Brand- und Explosionsschutz | 18 |
4.5 Betrieb elektrischer Prüfanlagen | 13 |
4.6 Erst- und Wiederholungsprüfung von elektrischen Verbrauchsmitteln | 10 |
4.7 Erst- und Wiederholungsprüfungen von Installationsanlagen | 16 |
4.8 Messen, Steuern und Regeln – Steuerungen/Automationstechnik | 12 |
Quelle: Internationale Leitlinie zur Beurteilung der Befähigung von Elektrofachkräften von der ISSA
Zur Verdeutlichung: Eine neunwöchige Qualifizierung zur Elektrofachkraft in der Industrie entspricht den international empfohlenen Mindestzeiten zur Vermittlung spezieller Kenntnisse und Erfahrungen nicht einmal für einen einzelnen Teilbereich der Elektrotechnik.
Auch die VDE 1000-10 erläutert im Anhang A, dass es eine Elektrofachkraft, die umfassend für alle elektrotechnischen Arbeitsgebiete ausgebildet und qualifiziert ist, nicht gibt. So kann nicht ohne Weiteres eine Elektrofachkraft für das Arbeitsgebiet Elektromaschinenbau im Arbeitsgebiet von Hochspannungsanlagen oder eine Fernmeldefachkraft im Arbeitsgebiet der Niederspannungsinstallation tätig werden, weil dazu andere Kenntnisse und Erfahrungen erforderlich sind.
Wenn nach Auffassung des VDE selbst gelernte Fachkräfte, mit bspw. 3,5 Jahren Ausbildungszeit als Energieanlagenelektroniker, außerhalb ihres erlernten Fachbereichs nicht als Elektrofachkräfte gelten, können Mitarbeiter nach einer neunwöchigen Schulungsmaßnahme nicht als Elektrofachkraft ohne Konkretisierung des elektrischen Tätigkeitsbereichs anerkannt werden.
Mitarbeiter, die nicht den Kenntnisstand einer klassischen 3- bis 3,5-jährigen Berufsausbildung im elektrotechnischen Bereich erreichen, wie bspw. Elektrofachkraft in der Industrie oder Elektrofachkraft für festgelegte Tätigkeiten, können im Unternehmen kleinere elektrotechnische Tätigkeiten selbstständig und eigenverantwortlich verrichten, benötigen hierzu jedoch eine fachliche Führung mit eindeutigen Vorgaben und klaren Grenzen.
Die von Bildungsträgern für ihre Schulungen gewählten Titel bzw. Qualifizierungsbezeichnungen, für welche die Teilnehmer am Ende eine entsprechende Bescheinigung oder ein Zertifikat erhalten, können nicht einfach blindlings im Unternehmen übernommen oder als „somit gegeben“ anerkannt werden. Vielmehr ist es Aufgabe der Verantwortungsträger im Bereich der Elektrotechnik, die erworbene Zusatzqualifikation in Einklang mit elektrotechnischen Normen und Regelwerken (z. B. VDE 1000-10, VDE 0105-100, TRBS 1203, DGUV Information 203-002 usw.) zu bringen und den sicheren Einsatz sowie die Fachkunde der Mitarbeiter im Hinblick auf die auszuführenden Tätigkeiten entsprechend der anerkannten Regeln der Technik im Unternehmen zu beurteilen. Am Ende entscheidet die Verantwortliche Elektrofachkraft (VEFK) des Unternehmens über den Tätigkeitsumfang im Einzelfall, nicht der Unternehmer oder der disziplinarische Vorgesetzte und erst recht kein externer Schulungsanbieter.
Fazit
Eine über wenige Wochen durchgeführte Qualifizierung im elektrotechnischen Bereich ist keineswegs mit einer klassischen 3,5-jährigen Berufsgrundausbildung vergleichbar, somit kann dieser Weiterbildung/Qualifizierung auch unter keinen Umständen ein vergleichbarer Stellenwert eingeräumt werden. Mit Abschluss einer derartigen Weiterbildung/Qualifizierung ist kein Automatismus zur Erlangung der Qualifikation als Elektrofachkraft gegeben, wodurch die betreffende Person auch nicht als Elektrofachkraft eingesetzt werden sollte.
Mehr dazu: https://www.bghm.de/arbeitsschuetzer/fach-themen/elektrotechnik/positionspapier-elektrotechnik